Predigt am Palmsonntag 2004, gehalten in der St. Jacobi Kirche zu Perleberg

von Superintendent Hans-Georg Furian

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und von unserem Herrn Jesus Christus. Amen

Liebe Schwestern und Brüder,

ist Jesus Christus für uns Christen wichtig, weil er unser Vorbild ist? Diese Frage soll der rote Faden der heutigen Predigt sein. Wir hören zunächst auf den Text selbst, auf Worte aus dem Brief an die Philipper. Im 2. Kapitel erinnert Paulus in den Versen 6 bis 11 an Jesus Christus.

„(5) Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht:
(6) Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, (7) sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; (8) er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. (9) Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, (10) damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu (11) und jeder Mund bekennt: "Jesus Christus ist der Herr" - zur Ehre Gottes, des Vaters.“ Amen.

Liebe Schwestern und Brüder, der erste Satz scheint unsere Frage schon zu beantworten. Da heißt es: „Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht.“ Ist er also wichtig, weil er unser Vorbild ist?

Achten wir auf den Fortgang des Textes. Da stellen sich Zweifel ein. Er war ganz oben – wie Gott – und machte sich so klein, wie wir sind. Auf diese Bewegung von oben nach unten kam es den ersten Christen an. Christus war ein so wichtiger Mensch, weil er von Gott kam, also ganz mit ihm einig war. Heute zählt anderes. Wir denken umgedreht: von unten nach oben. Danach wäre Jesus, weil er ein guter, ein vollkommener Mensch war, zum Sohn Gottes geworden. Danach hätte er sich den Himmel durch seinen überzeugenden Lebenswandel verdient. Sehen wir Jesus so, dann zeigen wir, wie wir uns selbst sehen; nämlich das wir gerne auf dem Weg nach oben sein würden, zu mehr moralischer Vollkommenheit. Jesus wird dann auch so verstanden; als ob es sich mit ihm auch so verhalten würde, wie mit uns. Wir möchten uns heute alles verdienen dürfen – denn dann steht es uns auch zu, dann gehört es uns. Und so denken wir auch von Jesus, dass er es sich verdient hat, Gottes Sohn zu sein.

Hier zeigt sich die Kluft zwischen uns und den Christen damals. Paulus unterscheidet nämlich sehr genau zwischen dem Bereich, wo wir etwas tun können und dem, wo das nicht gelingen kann. Er unterscheidet zwischen unserem Glauben und der Moral. Im Glauben wird etwas an uns getan – in der Moral tun wir etwas an anderen. Um uns nichts schenken lassen zu müssen, sondern auch in Glaubensdingen etwas tun zu können, verwischen wir diesen Unterschied oft. Die Folge: was uns bloß geschenkt werden kann, Gottes Liebe, gilt uns nichts. Im Glauben können wir uns nichts schenken lassen – sondern müssen uns und anderen beweisen, wie richtig oder wie gut wir sind; und in der Moral ersetzt der gute Wille die gute Tat. Leidvolle Erfahrungen aus der letzten Diktatur auf deutschem Boden zeigt, dass gut gemeint nicht dasselbe ist wie gut gemacht. Wir brauchen – um uns das klar zu machen-, gar nicht so weit von uns wegzusehen. Auch wir meinen häufig etwas gut, besonders im Blick auf unsere Kinder, aber es wirkt sich ganz anders aus.

Hier geht es um den Begriff der Sünde. Da kommen Paulus und sein Text ins Spiel. Es gibt für uns gar nicht die Möglichkeit, wie sie für Jesus bestand, nämlich in vollkommenem Gehorsam aus dem Willen Gottes zu leben. Dieser Wille müsste sich ja ständig gegen unseren Willen durchsetzen. Bei Jesus Christus war es aber anders; der war ja Gott und mit dem einig, was Gott wollte. Diese Einheit gibt es für uns nicht. So macht gerade dieser Text klar: Wir können Jesus nachfolgen, ihn aber nicht nachmachen. Gerade dieser Versuch wäre Sünde, denn in ihm missachte ich den Unterschied zwischen Gott und Mensch. Christus war stets Gott, erfüllt mit seinem Geist. Wir müssen unseren Willen zurücknehmen, um Gottes Willen tun zu können. Was für uns eine Aufgabe ist, war für ihn selbstverständlich; was nicht meint, ihm wäre es in jeder Situation leicht gefallen. Gerade die Passionszeit erinnert uns daran, wie schwer es auch für ihn gewesen ist, hinzunehmen, dass Gott ihn sterben lässt. Die Versuchung konnte ihm letztlich nichts anhaben, im Unterschied zu uns. Denn uns gelingt es eben nicht, unseren Willen ganz zurückzunehmen um ihn dann durch das zu ersetzen, was Gott will. Wir bleiben Sünder.

Aber zugleich Teil der  Gemeinschaft derer, die nicht mehr aus sich leben möchten, sondern aus dem, was Gott uns möglich macht. In dieser Gemeinde geht es dann darum, dass wir – nach dem uns der Glaube geschenkt wurde – so leben, dass man darin Jesus Christus wieder finden kann. Es müssen vielleicht nicht alle Menschen zu Christen werden, aber alle Menschen müssen an jedem Christen erkennen, dass er ein Christ ist. Woran erkennt man uns? Zum Beispiel daran, wie wir uns selbst sehen.

Wir sehen uns so, das Gott uns gewollt hat; ja jeden Menschen. Weil er, der Größte und der Wichtigste uns gewollt hat, sind wir groß und wichtig. Wir sind das also nicht aus uns, sondern seinetwegen. Diese Sicht auf den Menschen ist der Grund dafür, jedem Menschen seine Würde zuzubilligen. Die ginge verloren, wenn sie davon abhängen würde, ob wir sie uns verdient haben. Die ginge verloren, wenn sie davon abhängen würde, welche Eigenschaften wir haben.

Jesus, der Gott – Mensch, ist der gute, weil geschichtliche Grund dafür, dass wir uns von Gott er erblicken und nicht allein von der Natur aus. Von der Natur aus gesehen ist der Mensch nur ein, vielleicht besonderes Tier, begabt mit Vernunft. Wer den Grund seines Daseins nur so versteht, der setzt sich selbst in ein falsches Licht, denn nun muss er es sich verdienen, dazu zu gehören, versorgt zu werden oder erzogen zu werden. Aber all das dürfen wir uns nicht verdienen wollen, sondern es folgt aus der Würde, die uns als Menschen zukommt. Das bedeutet: All das muss eine Gesellschaft dem Menschen bieten, wenn sie menschlich genannt werden möchte. Unserer Gesellschaft das sagen zu können gründet darauf, dass wir den Menschen von Gott her sehen: als das Wesen, dass zählt, nicht solange es zahlt, sondern weil sich Gott auf ihn eingelassen hat.  Nicht unser moralisches Vorbild, sondern ein Leben aus dieser Botschaft, das ist unsere Aufgabe. Ein Leben, das die Menschenwürde stark macht, weil es ihr ihren Grund gibt.

Daraus folgt: Wie sich Jesus klein machte, so müssen uns auch wir den Kleinen zuwenden und ihr Sprachrohr sein. Ganz unmöglich ist es mit diesem Menschenbild, Kinder zu missbrauchen. Verkehrt ist es der Spaltung unserer Gesellschaft zuzusehen, in dem Geringverdiener gegen Hartz IV Empfänger ausgespielt werden. Wir haben festzuhalten, dass jeder ein Wesen Gottes ist. Diese Gleichheit will nicht Unterschiede verwischen, aber an Mindeststandards und Mindestlohn festhalten, die ein lebenswertes Leben ermöglichen  müssen.

An diesen Themen sehen Sie, wie aktuell der christliche Glaube ist. Er gibt der Menschenwürde ihren Grund. Darin besteht seine Bedeutung, nicht in moralischen Appellen. Die sind dann die Folge des Glaubens, nicht sein Grund. Amen.

Und der Friede Gott, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen

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