Hauptsache, der Kirchturm bleibt im Blick
von Susanne Atzenroth
Vor Kathrin Muhs liegen Fotoalben, die Familienbibel und ein Stammbaum ausgebreitet. Sie erzählen die Geschichte ihrer Familie, die eng mit dem Dorf Blüthen und dem Friedhof verbunden ist. Wie in vielen Dörfern der Region umgeben die Gräber die wehrhafte Feldsteinkirche. So bleiben die Verstorbenen auch im Tod Teil des Dorflebens. Ob beim Kirchgang oder beim Pflegen der Gräber – der Friedhof ist in Blüthen nicht nur ein Ort der Ruhe, sondern auch der Begegnung.
Kathrin Muhs‘ Großeltern und ihre Urgroßeltern ruhen hier, ebenso wie ihr Vater. Mit dem Fahrrad braucht sie nur wenige Minuten, wenn sie in den letzten trockenen Sommerwochen fast täglich zum Gießen kommt. Sie teilt sich die Aufgabe mit ihrer Mutter, die auf dem Hof der Familie wohnt, nur wenige Häuser entfernt. Ihre Schwester hat die Familiengeschichte bis ins frühe 18. Jahrhundert zurückverfolgt: eine alte Bauernfamilie, die auf Beständigkeit und Zusammenhalt setzt. „Das sind Werte, die wir immer noch pflegen“, so Katrin Muhs. Gemeinsame Mahlzeiten und viele Treffen in der Familie gehören dazu. „Jeden Sonntag deckte meine Großmutter Ilsetraut den Kaffeetisch mit schönen Sammeltassen und frisch gebackenem Kuchen“, erinnert sie sich. Auch an ihren Großvater Günter, der für seinen Humor bekannt war. Lachend erzählt sie, wie der Pferdenarr und spätere Begründer des „Blüthener Pferdemarktes“ seinen Enkelkindern an Ostern Pferdeäpfel statt bunter Eier in die Nester legte.
Diese und viele weitere Geschichten aus ihrer Familie hat sie nun zusammengetragen, „damit sich auch die folgenden Generationen erinnern können.“ Anlass dazu bot ihr das Projekt „Lebensgeschichten“ des Trägervereins Pfarrhausmuseum Blüthen: Auf dem dortigen Friedhof werden unmittelbar an Grabsteinen, aber auch anstelle nicht mehr existierender Grabstätten insgesamt zwanzig Stelen aus Stahl aufgestellt, die neben den Basisangaben zu den Verstorbenen einen QR-Code tragen, der zu den ausführlicheren Lebensgeschichten auf der Internetseite des Vereins führt.
Jedes Leben ist besonders
„Die Botschaft des Projekts ist: Jedes Leben ist besonders, jedes Leben ist eingebunden in die Geschichte, jedes Leben ist ein Teil der Erzählung des Ortes und der Region. Das scheinbar unbedeutende Leben ist genauso der Erinnerung wert wie das scheinbar bedeutendere“, erläutert Pfarrer im Ruhestand Peter Radziwill vom Vorstand des Vereins. Manche dieser Geschichten lesen sich wie ein Krimi, etwa die des verschleppten, womöglich niemals nach Blüthen gekommenen, aber hier begrabenen Bischof aus dem spätmittelalterlichen Lübeck. Auch erheiternde Episoden über allseits bekannte Dorforiginale sind darunter. So hatte sich der immer zu einem kleinen Streich aufgelegte, 1948 verstorbene Karl Brüning, bereits vor seinem Tode Sarg, Musik für seine Beerdigung ausgesucht. Auf seinem Grabstein gibt er sich selbst augenzwinkernd den Beinamen „Karl Ehrlich“. Andere Geschichten sind anrührend, wie die des Pfarrers, der seiner jung verstorbenen Frau einen bewegenden Nachruf im Kirchenbuch hinterlassen hat. Auch bedrückende Schicksale werden erzählt, etwa die der in die vermeintliche Sicherheit landverschickte Kinder, die 1945 Opfer einer verirrten Fliegerbombe wurden, oder die einer vierköpfigen Familie, die 1966 einer Fischvergiftung erlag, was den Zeitumständen folgend eher verschwiegen wurde.
Zeichen der Verbundenheit
Das Projekt ist eingebettet in den Komplex Pfarrhausmuseum Blüthen, das in seiner Ausstellung das Leben in einem ehemaligen Pfarrhaus lebendig werden lässt. Pfarrer Karl Groß, dem zusammen mit seiner Frau Gerlinde eine Stele gewidmet ist, wirkte hier sechs Jahrzehnte bis 1994. Er hinterließ zahlreiche Dokumente zur Dorf- und Pfarrgeschichte, die er als Forschender mitgeprägt hatte. Doch Pfarrer auf dem Lande waren einstmals auch Landwirte – so macht es eine neue Ausstellung im frisch restaurierten Wirtschaftsgebäude des Pfarrhofs deutlich, die zusammen mit der Einweihung der Stelen am 28.9. eröffnet wird.
Auch Katrin Muhs erinnert sich an Pfarrer Karl Groß, der sie noch bis in die Konfirmandenzeit begleitete. Viele ihrer damaligen Mitschüler wohnen jetzt wie sie mit ihren eigenen Familien in Blüthen und prägen die Dorfgemeinschaft. „Schon seit der Jugendzeit fühlen wir uns wohl in unserem Dorf und möchten nirgendwo anders sein“, berichtet sie. „Hauptsache, der Blüthener Kirchturm bleibt im Blick“, fasst sie ihre Verbundenheit lächelnd zusammen.
Erschienen in der Evangelischen Wochenzeitung Die Kirche, Ausgabe 39/2025
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