Wort zur Woche

von Pfarrer Daniel Feldmann

Die Kraft der Erinnerung

Maria ist 77 Jahre alt. Sie ist dankbar für ihre Familie, ihren Ehemann, die Kinder und Enkel. In den letzten Jahren muss immer wieder an ihren Vater denken. Es gibt keine persönliche Erinnerung an ihn. Da sind nur die Geschichten der Mutter oder der Verwandten und Freunde. Jede Geschichte ist jetzt wie ein ganz wertvoller Schatz. Jahrelang hat sie nicht an ihn denken müssen. Doch irgendwie ist er jetzt ganz präsent in ihrem Leben.

Biographien wie die von Maria stehen für eine ganze Generation von Kindern, die ohne ihre Mütter und Väter aufwachsen mussten. Nicht eine Krankheit oder ein natürliches Sterben war dafür verantwortlich. Die Grausamkeit des Krieges entriss ihnen einen ganz wichtigen Teil der Familie. Halbwaisen oder Waisen sind häufig geprägt von ihrem Schicksal. Es lässt sie nie so richtig los. Der zweite Weltkrieg ist eine große Katastrophe in der Geschichte der Menschheit. Millionen von Menschen verloren ihr Leben. Unzählige Menschen haben gelitten oder leiden bis heute.

Der Tag der Befreiung ist heute 74 Jahre her. Als Nachgeborene, als Kinder oder Enkel können wir kaum ermessen, was Krieg und Vertreibung existentiell bedeuten. Dennoch liegt es in unserer Verantwortung zu erinnern. Die Bibel trägt dazu folgenden Vers bei: „Halt im Gedächtnis Jesus Christus, der auferstanden ist von den Toten.“

Ich übersetze diesen Satz so: Erinnerung wird möglich, wo Hoffnung herrscht. Aber wir Menschen sind vergesslich. Wir vergessen leicht, woher wir kommen und in welcher Situation sich unser Land und Volk vor gerade drei Generationen befand. Schon nehmen wir als selbstverständlich, was doch erst vor einer halben Generation errungen wurde: die Einheit in Freiheit. Wir neigen dazu, unsere Freiheit als selbstverständlich zu betrachten. Erinnerung vertreibt den falschen Schein der Selbstverständlichkeit. Sie macht dankbar für das Erreichte und verpflichtet dazu, den Segen, der auf uns gelegt wurde, nicht wieder zu verspielen, sondern ihn an unsere Kinder weiterzugeben.

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